Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität

Zwischen Biopolitik, “Ausnahmezustand” und der Hoffnung auf Revolution

U1 zu Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II

Leseprobe

Zwischen Biopolitik, “Ausnahmezustand” und der Hoffnung auf Revolution

Von CHRISTOPH HUBATSCHKE | Veröffentlicht: 14. MÄRZ 2020

Philosophische Reflexionen und Analysen bestimmter historischer und gesellschaftspolitischer Ereignisse und Entwicklungen finden zumeist sehr viel später, im Nachhinein in ihrer Ausführlichkeit statt, nicht zuletzt weil Philosophie Zeit braucht. So dauert es meistens zumindest ein paar Monate bis erste größere philosophische Betrachtungen verschiedener Ereignisse verfügbar sind. Philosophie ist selten ein aktueller Kommentar zum schnelllebigen Newsfeed. Dennoch und umso mehr spielen aber philosophische Konzepte entscheidende Rollen in der Einordnung und Kommentierung aktueller Ereignisse. Die Arbeiten von Foucault zur Biopolitik oder Mbembes Konzept der Nekropolitik sind dabei natürlich besonders aktuell, aber auch Agambens Arbeiten zum Ausnahmezustand werden momentan viel zitiert. Auch philosophische Untersuchungen zur Problematisierung von normierter Gesundheit wie sie Canguilhem oder auch Nancy vornahmen, kommen wieder verstärkt in den Fokus. Auch in einem meiner Spezialfelder, der Technikphilosophie, gibt es viele Konzepte, deren Brauchbarkeit und Überzeugungskraft sich in der momentanen Situation zeigt. 

Doch es spielen nicht nur bereits ausformulierte bekannte philosophische Konzepte im momentan alles dominierenden Diskurs über den Coronavirus eine gewichtige Rolle. Denn auch wenn politische Analysen und verständlicherweise naturwissenschaftliche Expertisen und Erkenntnisse die meistgelesenen oder zumindest meist zitierten und retweeteten Beiträge in diesem Diskurs darstellen, melden sich nun auch, nachdem die Lage bereits seit einiger Zeit in immer mehr Teilen der Welt ernster wird, vermehrt Philosoph*innen zu Wort und formulieren erste Einschätzungen. Das schnelle Hot-Takes von medial besonders beliebten Philosophen (zumeist nur Männer) nicht immer zu den Sternstunden der Philosophie zählen ist allzu bekannt.

In dieser mehrteiligen Reihe möchte ich trotzdem einige dieser Reaktionen versammeln und in kurzen Beiträgen zusammenfassen und gegebenenfalls kritisieren. Dabei werde ich mich sowohl aktuellen Kommentaren verschiedener Philosoph*innen zum Coronavirus widmen und andererseits auch die einen oder anderen verschiedenen älteren Texte und Theorien einbringen, die zu einer Einordnung der Ereignisse hilfreich sein könnten.

Teil 1: Foucault: In der Seuche die Disziplinarmacht

Einige Kurze Passagen aus Überwachen und Strafen, über die Geburt der Disziplinarmacht in der Reaktion auf die Pest.

Teil 2: Agamben: Der homo sacer im Ausnahmezustand des Coronavirus

Kurzer Überblick über einige der zentralen Begriffe aus agambens Hauptwerk homo sacer

Teil 3: Agamben II: Ausnahmezustand oder schon Verschwörungstheorie

Zusammenfassung und Kritik von Agambens etwas eigenartigen Kommentar von Ende Februar über die Reaktion der italienischen Regierung auf den Coronavirus

Teil 4: Nancy vs. Agamben: Die ‘virale Ausnahme’

Zusammenfassung von Jean Luc Nancys Kritik an Agambens Kommentar zum Coronavirus

Teil 5: Esposito: Von der ‚Politisierung der Medizin‘ und dem Zusammenbruch des Systems 

Kurze Zusammenfassung und Kritik der Antwort auf die Antwort, also Roberto Espositos Replik auf Nancys Kritik an Agamben

Teil 6: Žizek I: Der Coronavirus – ein hollywoodreifer Todesschlag gegen den Kapitalismus? 

Kurze Zusammenfassung und Kritik von Žizeks ersten Kommentar zum Coronavirus und seiner Hoffnung dass aus dieser Krise eine neue Solidarität und eine “reinvention of communism” folgen könnte.

Teil 7: Foucault II: Der Virus und die Biopolitik/-macht 

Kurze Einführung in Foucaults Konzepte der Biopolitik und Biomacht im Kontext des Coronavirus. Inklusive einer Auswahl an längeren Abschnitten aus Foucaults Originaltext

Teil 8: Agamben III: Nach dem Virus sind wir nur noch ’nacktes Leben’ und andere ‘Klarstellungen’

Kurze Zusammenfassung und vor allem Kritik des zweiten Texts von Giorgio Agamben zum Coronavirus, der den Titel ‘Klarstellungen’ trägt.

Teil 9: Über die (Un)Möglichkeiten einer demokratischen Biopolitik

Einige Gedanken darüber, ob jede Biopolitik immer totalitär, repressiv und von oben sein muss oder ob es auch so etwas wie eine demokratische Biopolitik von unten geben kann.

Teil 10: Zizek II: Das ‘Begehren’ nach Überwachen und Strafe in Zeiten des Virus

Ist totalitaristische Politik besser gewappnet mit den Virus zu überstehen und wo bleibt die Solidarität? Kommentar des recht ausführlichen und durchaus interessanten Artikel Zizeks Monitor and Punish, Yes Please!

Teil 11: Canguilhem: Gesundheit, Krankheit und Norm in Zeiten der Pandemie

Einige Ausschnitte aus Canguilhems Werk Das Normale und das Pathologische über Gesundheit, Krankheit und Norm

Teil 12: Butler: Die Frage der Gleichheit vor dem Virus

Einige Bemerkungen zu Judith Butlers Text “Capitalism has its Limits” zu dem Coronavirus im Kontext des US-Wahlkampfes

Teil 13: Quicktakes I: Die Normalität vor/in/nach der Pandemie

In diesen ersten „Quicktakes“ geht es um eine Reihe an verschiedensten Beiträgen, die alle in direkterer oder indirekter Form die Frage der Normalität vor/in/nach der Pandemie stellen.

Teil 14: Badiou: Die Pandemie als ‘Nicht-Ereignis’

Zusammenfassung und Kritik an Alain Badious Text über das Coronavirus und dessen Status als ‘Nicht-Ereignis’, über das es kaum etwas zu sagen gäbe.

Teil 15: Bifo: Die Virus-Aphorismen

Einige Anmerkungen, Kritiken und Kontextualisierungen zu Franco ‘Bifo’ Berardis aphoristischen Tagebucheinträgen zum Coronavirus geschrieben in Bologna Anfang März.

Teil 16: Quicktakes II: Biopolitik, Ausnahmezustand und Virusmetaphern – oder Foucault vs. Agamben

In dieser Sammlung von Kurzrezensionen verschiedener Texte geht es um die Frage der Begriffsarbeit in Zeiten der Pandemie und ob Foucault oder Agamben hier mehr helfen können.

Teil 17: Bifo II: Neue Aphorismen aus der Isolation

Zusammenfassung und Kommentierung des zweiten Teils von Franco ‘Bifo’ Berardis aphoristischen Bemerkungen in Tagebuchform (vom 15.–24.März).

Teil 18: Die Pandemie in Zeiten der ‘Kontrollgesellschaften’

Dieser Text versucht eine kurze Einführung in das Konzept der ‘Kontrollgesellschaften’ von Gilles Deleuze zu geben und in einem zweiten Schritt dieses Konzept auf die momentane Situation der Pandemie und des Coronavirus anzuwenden.

Teil 19: Preciado: Die problematische Lehre des Virus

Eine Zusammenfassung und Kritik der aktuellen Texte des Theoretikers Paul B Preciado über seine eigene Erkrankung am Coronavirus und die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie.

Teil 20: Quicktakes III: Beschleunigung, Entschleunigung und die Unsicherheit vor dem Virus als Feind

In dieser Sammlung von Kurzrezensionen geht es um Texte und Interviews zur Frage der Unsicherheit, den Geschwindigkeiten des Virus und der Entschleunigung im Sozialen und einer vermeintlichen Rückkehr des Feindes in die Politik. Texte von Jürgen Habermas, Byung-Chul Han, Armen Avanessian und Hartmut Rosa.

Teil 21: Zukunftsgeschichten: Inspirationen aus der Popkultur oder wie das Virus denken

In diesem Beitrag wird nach dem Potential von Science Fiction und Horror (JG Ballard, Carpenters The Thing und Octavia Butler) für Denken über das Virus und eine mögliche Neue Welt nach der Pandemie gefragt. Popkultur als Denkanstoß. 

Teil 22: Agamben IV: Wessen Freiheit auf wessen Kosten?

Ausführliche Kritik und Problematisierung des Agamben Textes “Ich hätte da noch eine Frage”, der Mitte April veröffentlich wurde.

Teil 23: Protest und Pandemie. Einige Überlegungen

Einige Reflexionen über die Möglichkeiten, Gefahren und Herausforderungen von Protesten in der Pandemie, sowie zu den Unterschieden zwischen rechten und linken Protesten und der “soft leadership” in den Social Media.

Teil 24: Quicktakes IV: Demo mit Abstand — ‘braver Protest’ oder radikaler Widerstand?

Diskussion einiger Texte zum Thema Protest in Zeiten der Pandemie, ein Interview zum Thema Ungleichheit und autoritärer Politik in der Coronakrise und Demoaufrufe zum Mayday und 10 Jahre Boem.

Foucault II: Der Virus und die Biopolitik/-macht

Von CHRISTOPH HUBATSCHKE | Veröffentlicht: 18. MÄRZ 2020

Dieser Beitrag ist ein Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

In dem ersten Beitrag dieser Serie habe ich ein paar Ausschnitte aus Foucaults Werk Überwachen und Strafen zitiert, die in der momentan alles beherrschenden Diskussion über den Coronavirus von Interesse sein könnten. Dabei ging es um die Geburt der Disziplinargesellschaft in der Pestseuche des 17. Jahrhunderts. In diesem Beitrag möchte ich einen weiteren Begriff von Foucault, der nicht erst jetzt von höchster Aktualität und vor allem Relevanz zu sein scheint, in aller Kürze darstellen. In seiner Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft am Collège de France in 1975/76 entwickelte er einen Begriff weiter, der in ähnlicher Form schon in Willen zum Wissen auftauchte, aber besonders in der Vorlesungseinheit vom 17.März 1976 konzipiert und ausformuliert wurde, nämlich Bio-Macht.

Die ‘Verstaatlichung des Biologischen’

Die zentrale These dieser Vorlesung ist, dass die Bio-Macht jene Machttransformation beschreibt, die im Übergang von der Souveränitätsmacht zur „Macht über das Leben“ stattfand. Der Souverän hatte noch die Macht Leute hinzurichte, also entweder „sterben zu machen oder leben zu lassen“ wie Foucault es nennt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich jedoch eine Macht, die nahezu eine „umgekehrte“ Macht zu sein scheint, nämlich jene Macht „leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘“ (284). Ins Zentrum der Macht rückt damit nicht der Tod sondern eben das Leben, die Kontrolle des Lebens, die „Verstaatlichung des Biologischen“ (282). Nicht mehr der einzelne Körper steht hier im Fokus, sondern die Bevölkerung als kollektiver „multipler Körper“ (289). Angeleitet von neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten und Erkenntnissen gilt es nicht mehr den einzelnen Körper zu disziplinieren, sondern die Bevölkerung als statistische Masse, als Geburten- und Sterberate zu kontrollieren und zu regieren. Auch Krankheit wird daher im politischen Diskurs der Biopolitik nicht mehr als ein Problem eines einzelnen Körpers betrachtet, sondern auf die Problematik des kollektiven Gesamtkörpers gerechnet. Dabei gilt es Information und Statistiken zu erheben und zu zentralisieren und daraus biopolitische Regelungen abzuleiten, so z.B. Hygiene-Maßnahmen, Vorsorgeuntersuchungen usw. Die Transformation zur Bio-Macht ist dabei, wie so oft bei Foucault, keine bloße Kritik an einer Entwicklung sondern vielmehr eine Deskription einer historisch-politischen Verschiebung, die jedoch für uns heute von Relevanz ist. Solch eine Verschiebung muss allerdings nicht per se nur negativ sein.

Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun tritt eine Macht in Erscheinung, die ich als Regulierungsmacht bezeichnen würde und die im Gegenteil darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen. (291)

Die Politik des ‘Sterben-Lassens’

Die Biomacht entscheidet also nicht mehr über das Schicksal einzelner Körper, diesen zu töten oder jenen leben zu lassen, sondern macht leben oder lässt sterben, kurz: greift dort ein wo es leben machen möchte, wo es Leben erhalten und fördern möchte oder verhindert Eingriffe um sterben zu lassen. Nicht der Tod ist dabei der politische Entscheidungsakt, sondern das Sterben lassen. Die Biomacht ist also eine Macht, die gerade heute schon vor der aktuellen weltweiten Pandemie von enormer Relevanz und Brisanz war. Schließlich umschließt die Biomacht zahllose umkämpfte Bereiche, von Fragen der Sterbehilfe, der Abtreibung und anderen Gesundheitspolitiken bis hin zu Fragen der europäischen Flüchtlingspolitik, die sich in den letzten Jahren und vor allem auch den letzten Wochen wieder ganz besonders im „sterben lassen“ an und vor den Grenzen Europas übte. 

Schon Foucault wies in seiner Vorlesung auf die zentrale Rolle des Rassismus für diese Biopolitik/macht hin. Denn der Rassismus ist die „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss“ (301). Die Biomacht arbeitet nämlich vor allem durch Normierung. Doch um eine Norm zu schaffen, braucht es das, was als Anormal klassifiziert wird, was außerhalb dieser Norm liegt. Hier hat der Rassismus eine konstituierende Rolle, denn in den westlichen Gesellschaften ist es vor allem der Rassismus, aber in weiterer Form auch Sexismus, Klassismus und Ableismus, die als Abweichung der Norm eingeteilt werden, eine Einteilung die damit überhaupt erst die Norm konstruiert. 

Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben und dem, was sterben muss. (301)

Biomacht und Coronavirus

Die Biomacht als Macht also, die Leben macht und sterben lässt, als Macht die die Bevölkerung und dann erst abgeleitet davon in zweiter Instanz den individuellen Körper reguliert, ist momentan besonders aktiv. Denn gerade im Umgang mit dem Coronavirus geht es eben nicht so sehr um die Behandlung des einzelnen Individuums sondern die Regulierung der Bevölkerung, die Regulierung der Mobilität der Begegnung oder eben der Nicht-Begegnung einzelner. Dabei zählt weniger der einzelne Kontakt, die einzelne Übertragung, sondern die statistischen Entwicklungen der Übertragungsraten und der damit verbundenen Intensivversorgungsraten und der Mortalitätsrate. Aber – und dies ist besonders relevant – auch die Regulierung der Teile der Bevölkerung, die eben nicht isoliert und geschützt werden, die in den Fabrikshallen und Baustellen weiterarbeiten müssen, jenen die keinen Schlafplatz oder keine Wohnung haben oder bekommen um sich isolieren und zurückziehen zu können; vor allem aber jenen in den Flüchtlingslagern an der Grenze, die sowohl dem Virus als auch anderen Gefahren ausgesetzt sind, jene also die die Biomacht „sterben lässt“.

Zum Weiterlesen

Sehr informativ und gut zu lesen ist der Eintrag zu Biopolitik/-Macht im Foucault Handbuch geschrieben von Petra Gehring (2008)

Zum Nachlesen: Passagen aus Foucaults Vorlesung im Wortlaut 

Eine neue Macht

Mir scheint, dass eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung auf den Menschen als Lebewesen, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte. (282)

[I]m 17. und 18. Jahrhundert sieht man Machttechniken entstehen, die wesentlich auf den Körper, den individuellen Körper gerichtet waren. All diese Prozeduren ermöglichten die räumliche Verteilung der individuellen Körper (ihre Trennung, ihre Ausrichtung, ihre Serialisierung und Überwachung) und die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit rund um diese individuellen Körper. Mit Hilfe dieser Techniken vereinnahmte man die Körper, versuchte man ihre Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern. Es handelte sich zugleich um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen. Sie wurde mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts installiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint, etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht-disziplinäre Machttechnologie darstellt. […] Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun – im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet – auf das Leben der Menschen anwenden; sie befasst sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungsmenschen. (285f)

Masse statt Individuum, Bevölkerung statt einzelnem Körper

Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde. (286)

In dieser Biopolitik handelt es sich nicht einfach um das Problem der Fruchtbarkeit. Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, nicht mehr einfach, wie es bis dahin der Fall war, auf der Ebene jener berühmten Epidemien, deren Gefahr die politischen Mächte seit dem tiefen Mittelalter so sehr bedrohte (die berühmten Epidemien, die vorübergehende Dramen des vervielfachten Todes, des allen drohenden Todes waren). Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es sich nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, das heißt die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten. Mehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren – so werden sie behandelt – des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt – das ist die Epidemie , sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrisst, es mindert und schwächt. (287)

Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum und seinem Körper zu tun. In der neuen Technologie der Macht hat man es dagegen nicht unbedingt mit der Gesellschaft (oder zumindest mit dem Gesellschaftskörper, wie ihn die Juristen definieren) zu tun und ebensowenig mit dem individuellen Körper. Es ist ein neuer Körper: ein multipler Körper mit zahlreichen Köpfen, der, wenn nicht unendlich, zumindest nicht zwangsläufig zählbar ist. Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Biopolitik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun – ich denke, dass dies der Augenblick ist, in dem sie in Erscheinung tritt. (289)

Der private Tod

Jetzt, da die Macht weniger und weniger in dem Recht, sterben zu machen, und immer mehr in dem Recht liegt, zugunsten des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das »Wie« des Lebens einzuwirken, jetzt, da die Macht vor allem eingreift, um das Leben zu verbessern, seine Unfälle, Zufälle, Mangelerscheinungen zu kontrollieren, wird der Tod als Endpunkt des Lebens mit einem Schlag natürlich zum Schlussstein, zur Grenze, zum Ende der Macht. Er steht außerhalb der Macht: Er ist das, was sich ihrem Zugriff entzieht und worauf die Macht nur allgemein, global und statistisch Zugriff hat. Die Macht hat nicht auf den Tod, sondern auf die Sterberate Zugriff. Insofern ist es normal, dass der Tod jetzt auf die Seite des Privaten und ins Allerprivateste abgleitet. (292)

Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper – Organismus – Disziplin Institutionen; und die Serie Bevölkerung – biologische Prozesse Regulierungsmechanismen – Staat. Ein organisches institutionelles Ganzes: eine Organo-Disziplin der Institution, wenn Sie so wollen, und auf der anderen Seite eine biologische und staatliche Gesamtheit: die Bio-Regulierung durch den Staat. (295)

Die rassistische ‘Norm’

Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur eine erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden. (298f)

Dort, wo eine Normalisierungsgesellschaft vorliegt, dort, wo Sie eine Macht vorfinden, die zumindest auf ihrer Oberfläche und in erster Instanz, in erster Linie, eine Bio-Macht ist, dort ist der Rassismus notwendige Bedingung dafür, jemanden dem Tod auszuliefern oder die anderen zu töten. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus. (302)

Literatur

Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Die gesamte Vorlesungseinheit vom 17. März 1976 gibt es hier auch als PDF zum Nachlesen

Bio-Politik / Bio-Macht

Book cover

Foucault-Handbuchpp 230–232Cite as

  1. Foucault-Handbuch  
  2. Chapter

Zusammenfassung

Die Thematik des Lebens spielt in Foucaults historischen Analysen (und im Gesamtwerk) eine zentrale Rolle. Die epistemische Bedeutung des Lebensbegriffs wird in Die Ordnung der Dinge herausgearbeitet: An der Schwelle um 1800 — mit dem Ende der klassischen Formation der Wissenschaften — treten (in den bei Foucault exemplarisch untersuchten drei Disziplinen der ›Ana-lyse der Reichtümer‹, der ›Naturgeschichte‹ und der ›Allgemeinen Grammatik‹) die Konzepte ›Arbeit‹, ›Leben‹ und ›Sprache‹ in den Vordergrund. Der dynamische Begriff ›Leben‹ ist dabei integrierend für den Diskurs der modernen Biologie (vgl. OD 307 ff.), wirkt seit dem 19. Jh. aber auch weit über die Biologie hinaus als »Quasi-Transzendentalie« mit den (ähnlich übergreifenden) dynamischen Größen ›Arbeit‹ und ›Sprache‹ zusammen.

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